Perlenschnur


Es ist alles anders. Als ist da eine Realität hinter der Realität, wie ein Spiegel im Spiegel. Als ist da ein zweites Ich. Ein Zauber liegt über allem, ein feines silbernes Geflecht, von einer unsichtbaren Spinne gewebt. Mir ist, als könnte ich es fühlen, schmecken, riechen  Alles ist in Bewegung, ein ständiges Fliessen umgibt mich. Worte, Gedanken und Bilder summen durch meinen Kopf.

Das Wissen um die Antwort ist in diesem Zauber, dem Flüstern der Blätter, den fliegenden Wolken am Himmel, in der Hand, die sich auf meinen Kopf legt. Meine Fragen kennen selten Antwort. Ich spüre mein Wissen in mir, dieses Suchen, den Drang allein zu sein, den Drang zur anderen Realität. Nur wenige Menschen gelangen wie ich in die Welt hinter den Spiegel.

Dabei ist es ganz einfach in die andere Welt hinüber zu gelangen.
Ich liege im Gras, beobachte den Sonnenschein auf den Blättern des alten Apfelbaumes, um mich herum vibriert und summt das Leben. Das Blau des Himmels vermischt sich mit dem Grün der Bäume. Schwalben kreischen um mich her, eine verwischte, silbern schimmernde Gestalt kommt den Gartenweg hinunter. Sie ist wieder da, ich bin nicht allein in der zweiten
Realität. Sie ist eine der wenigen die durch  den Spiegel treten können. Sie ist meine erste Wegbegleiterin, kennt mein dunkles, drangvolles Suchen. Sie ist es auch, die ihre Hand auf meinen Kopf legt, meine Fragen spürt.

Sie zeigt mir den Mond, seine silbernen Strahlen brechen sich in den Eis-blumen am Fenster. Sie zeigt mir den weißen, unschuldigen Schnee, be-stehend aus abermillionen Kristallen, Sterne der anderen Welt.
Gemeinsam ziehen wir Perlen auf Schnüre, verknüpfen unseren Geist, befinden uns in einem Einklang. Zeit ist unwichtig, es gilt, den Gedanken und den Augenblick zu erkennen.

Doch es sind seltene Momente, in welchen wir meist an ihrem Küchentisch sitzen. Wir sprechen nicht viel miteinander, warum auch, wissen wir doch so viel voneinander. In der zweiten Realität sprechen die Gleichnisse. Die Lichter der Sonne, die auf  den Farben der Blumen am Fenster spielen. Der Christusdorn mit seinen kräftigen kleinen Blättern und den gefährlich langen Dornen.

Dornenkrone, bohrt sich tief ins Fleisch seiner Stirn. Blut und Schweiß rinnen herab, mischen sich mit seinen Tränen im Sand. Perle für Perle ziehen wir auf die Schnur, Gedanken fließen hin und her, weben Bilder, Phantasien. Da steht das vergilbte Photo eines Jungen zwischen den kleinen Dosen, Vasen und Schalen mit allerlei Inhalt auf dem altmodischen Küchenschrank. Gestorben ist er, gefallen vom Heuschober in eine Mistgabel, am Abend vor seiner ersten Kommunion. Neun Jahre alt und schon tot. Jetzt ist er ein Engel, er lebt im Licht, reist auf den Wolken, siehst du, da oben sitzt er!

Wohin gehen die Menschen, wenn sie sterben?  Da oben, wo in der Abend-dämmerung die kleinen roten Lichter flackern. Da oben am Wald, wo die Nebel aus den dunklen Bäumen aufsteigen. Da sind die Toten, sie sitzen des Abends auf ihren Gräbern und rauchen Pfeife, dabei erzählen sie Ge-schichten aus der alten Zeit. Auch unsere Toten sitzen dort oben, sprechen von uns in der grauen nebligen Kälte.

Wir sitzen in der Dunkelheit der abendlichen Küche nah beieinander am Fenster, lassen unsere Gedanken auf den Mondstrahlen spazieren. Siehst du die großen silbernen Vögel in den Bäumen schlafen? Das sind die Fischreiher, fast bewegungslos unsichtbar leben sie in ihrer Welt, weit entfernt von der unseren. Genau wie unsere Toten, die Abend für Abend
dort oben ihre Geschichten erzählen. MIT dem Finger ziehe ich die Konturen des dunklen Waldes auf der beschlagenen Fensterscheibe nach.

Der Mond und die Sterne stehen über dem stummen, bleichen Garten. Dunkel führt der Weg hinab zum Zaun, der fast im grauen Schleier des Flusses verschwindet. Sie nimmt mich bei der Hand, wir verlassen den Platz am Fenster und gehen hinaus. Sag, wohin gehen die Menschen, wenn sie sterben?

Schweigend folgen wir den Weg hinab, meine Hand liegt warm in der Ihren. Schwarz und kahl steht der alte Apfelbaum, in seiner rissigen Rinde spiegelt sich das Licht des Mondes. Sag, wohin gehen die Menschen wenn sie sterben? Ruhig legt sich ihre Hand auf meinen Kopf, forschend sieht sie mich an, als wolle sie alle meine Fragen spüren.

Nach einer stillen Ewigkeit zieht sie ihre Hand zurück, öffnet die Zaun-pforte zum Fluß hinab, dreht sich um und verschwindet im grauen Zwie-licht. Wie versteinert bleibe ich unter dem alten Apfelbaum zurück, eiskalte Angst greift an meine Seele. Wohin ist sie gegangen?
Warum verläßt sie mich ohne Antwort auf meine Frage? Wie geschmolzene Sterne fallen meine Tränen auf den kalten Boden. Der Nebel trägt ein Raunen vom Fluss herauf:
 
Der Weg ohne Anfang und Ende
schneller Flügelschlag im Himmelsblau

Der Weg ohne Anfang und Ende
zitternder Atemhauch im Blätterdach

Der Weg ohne Anfang und Ende
silberner Lichtstrahl im Eiskristall

Der Weg ohne Anfang und Ende
junger Morgen im weissen Schnee

Der Weg ohne Anfang und Ende
leg deine Fragen
in ihre ewigen Hände.
 

(alles ist aus einem   alles ist in einem)
 
brimo 00/01

 

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