Katzenmond


In einer fernen Zeit als der Schleier zwischen der Dieswelt und der
Anderswelt noch dünn war und vom Wind des Schicksals manchmal beiseite geweht
wurde, erblickte ein Geschöpf der feliden Gattung das Licht einer Welt, die
es  nachhaltig verändern sollte. Schwarz wie die schwärzeste Nacht war sein
Fell, doch seine Augen strahlten heller als die hellsten Strahlen der
goldenen Sonne. Goldauge rief die weise Katzenmutter ihren Sohn und ahnte,
daß ihm kein gewöhnliches Schicksal bestimmt war.
Beizeiten schickte sie ihn hinaus in die Welt, damit er seinen Weg finden
möge. Dieser Weg führte ihn zunächst zu Wesen, die sich selbst Menschen
nannten, und statt geschmeidiger, fellbedeckter Körper, wie Katzen sie
besaßen, schwerfällig und groß waren, und nur nacktes rosa Fleisch hatten,
welches sie in etwas hüllten, daß sie Kleidung nannten. Mit lauten Stimmen
schienen sie sich jederzeit anzubrüllen doch nach anfänglichem Schrecken
spürte Goldauge, daß es dort mehr gab: Wärme und Geborgenheit.
Die riesigen Pfoten der Menschen, die den kleinen Kater ohne Anstrengung
hätten zerquetschen können, fuhren ihm vorsichtig über das schimmernde Fell
und wenn er die Augen schloß, glaubte Goldauge die Zunge seiner Mutter zu
spüren und begann wohlig zu schnurren. Nur der Geruch - an den würde er sich
nie richtig gewöhnen können. Aber mit seine flinken rosa Zunge wusch er sich
rasch wieder sauber.  
So kam es, daß eine Freundschaft zwischen dem kleinen schwarzen Kater und den
seltsamen Menschenwesen entstand. Goldauge zog an einen schönen warmen Platz
am Kamin und die Menschin verwöhnte ihn mit allerlei Leckereien, die ihm
neben den Mäusen, die er im Stall fing, ein angenehmes Leben bereiteten.
Mit der Zeit wurde aus dem kleinen schwarzen Kater ein staatlicher schwarzer
Kater, dessen Ruf als geschickter Mäusefänger weit über die Grenzen seines
Stalls hinaus reichte. Es schien als könne nichts das Glück trüben, welches
Goldauge im Hause der Menschen gefunden hatte.
Doch eines Tages, als Goldauge verschlafen seine Augen öffnete, war ihm, als
hätte sich ein kalter, dunkler Schleier über die Welt gelegt. Die Stimmen
seiner Menschen klangen nicht so laut und fröhlich wie sonst und sogar das
Schälchen Rahm, das seinen Tag versüßen sollte war sauer geworden. Besorgt
begab sich Goldauge in den Stall - doch auch dort spürte er die Veränderung:
Die Mäuse, die sonst so flink versuchten seinen scharfen Krallen zu
entkommen, hockten matt im Stroh und waren eine leichte Beute für ihn. Doch
auch dieses reichhaltige Mahl konnte den Schleier nicht lüften, der sich über
die Welt, die Menschen und Goldauges Seele gelegt hatte.
Mit trüben Gedanken trottete er nach draußen, wo sich das Auge der Mondin
geöffnet hatte. Aber auch ihre silbernen Strahlen konnten den Schleier nicht
durchdringen. "Was ist nur geschehen?" fragte Goldauge traurig die Mondin,
die ihm in  so vielen Nächten als treue Freundin beiseite gestanden hatte.
Doch als Antwort erhielt er nur ihre Tränen, die er im Morgengrauen von den
Spitzen der Grashalme trank.
So ging es drei Tage und drei Nächte lang und stetig schien der Schleier, der
die Welt und ihre Bewohner einhüllte, undurchdringlicher zu werden. Obgleich
es ihm immer schwerer fiel, machte sich Goldauge unter dem besorgten Auge der
Mondin auf, um in seinem Gebiet nach dem rechten zu sehen. Matt und müde
überquerte er den Hof und wollte schon zu seinem warmen Platz am Ofen
zurückkehren, als er im Gras etwas aufblitzen sah. Vorsichtig schlich er sich
an und stand zu seiner großen Überraschung plötzlich vor dem schönsten
Katzenwesen, das seine Augen je erblickt hatten. Behutsam näherte er sich bis
seine schwarze Nase sanft ihre rosige berührte.
"Ich bin Silberpfote," erklärte die Katze - und ihre Erscheinung machte ihrem
Namen alle Ehre. Neben einem Fell von der Farbe der lodernden Flammen des
Herdfeuers, das ihren grazilen Körper bedeckte, besaß sie vier makellos weiße
Pfoten, die im Licht der Mondin silbern schimmerten. " Ich komme aus der
Anderswelt um dich zu holen, Goldauge," sprach sie zu dem erstaunten Kater.
"Du bist der Auserwählte, der uns als Einziger erretten kann. Nach
tausendjährigem Schlaf ist in der Anderswelt der Drache Der Ewigen Dunkelheit
erwacht und droht mit seinem giftigen Atem die Dies- und die Anderswelt zu
ersticken. Schon hüllt der Hauch des Verderbens uns ein und vergiftet unsere
Seelen.."
Erschreckt riß Goldauge seine Augen auf. Er konnte sich noch gut an die
Geschichten seiner Mutter erinnern, die davor gewarnt hatte sich in die
Anderswelt zu verirren, denn wer einmal dort war, wurde nie wieder gesehen.
Von wundersamen Wesen und mächtiger Magie wußte sie zu berichten und Goldauge
hatte immer einen ehrfurchtsvollen Bogen um die Orte gemacht, an denen die
Grenze zwischen Dies- und Anderswelt fließend war.
"Warum ich?" brachte er schließlich hervor. "Es gibt nur zwei Waffen, die den
Drachen Der Ewigen Dunkelheit vernichten können..." antwortete Silberpfote
"Es sind vollkommenes Vertrauen und vollkommene Liebe. Du bist der einzige,
der diese Waffen besitzt und somit dazu bestimmt ist in das Schicksal der
Welten einzugreifen," antwortete Silberpfote. "Morgen Nacht ist Katzenmond
und das Auge der Mondin ist ganz geöffnet, um über uns zu wachen. Ich werde
dich zur gleichen Zeit hier erwarten." So sprach die wundersame Kätzin und
verschwand im Dunkel der Nacht ehe Goldauge etwas entgegnen konnte.
Nachdenklich machte sich der Kater auf den Heimweg und trotz der tröstenden
Wärme des Herdfeuers fröstelte ihn den Rest der Nacht. Doch als der Morgen
graute und seine Menschen schweigend und unglücklich ihr Tagewerk begannen,
wußte Goldauge, daß er seinem Schicksalsweg folgen mußte.
Als die nächste Nacht anbrach und die Mondin silbern über ihre Kinder wachte,
machte Goldauge sich auf den Weg. Schon von weitem sah er vier leuchtende
kleine Sterne im Gras tanzen, Silberpfote war gekommen, um ihn auf dem Weg in
die Anderswelt zu begleiten. Wie schön sie doch war im magischen Mondlicht!
Goldauge wäre ihr bis ans Ende der Welt gefolgt, doch dann erinnerte er sich,
daß seine Reise noch weit darüber hinaus gehen sollte.

Schon bald erreichten sie den Ort der Großen Steine, ein Platz an dem
unachtsame Geschöpfe ohne weiteres in die Anderswelt gleiten konnten um dort
für zwei Ewigkeiten gefangen zu sein. Goldpfote kannte auch Geschichten von
den wunderlichen Wesen der Anderswelt, die dort zu treffen waren. Doch nur
die Weisen durften hoffen, ein solches Treffen unbeschadet zu überstehen.
Silberpfote berührte sanft mit ihrer Nase die Goldauges und raunte ihm ins
Ohr: "Wenn du mir vertraust und an das Gute in dir glaubst, folge mir jetzt
über die Schwelle zur Anderswelt. Schaue dich nie um und spreche mit keinem
der Wesen, die unseren Weg kreuzen. Wenn wir am Feenhügel angelangt sind,
verschließe deine Augen und folge einzig deinem Herzen. Ein Blick auf die
magischen Gestalten und du bist für immer im Netz der Ewigkeit gefangen."
Goldauge nickte tapfer und  gemeinsam schlüpften sie durch den Schleier, der
den Eingang zur Anderswelt verbarg.
Im selben Moment umgab sie der giftige Atem des Drachens Der Ewigen
Dunkelheit, der hier  noch viel schwerer auf den beiden Katzen lastete und
die Wunder der Anderswelt in dumpfes Grau hüllte. Goldauge folgte der Spur
seiner geheimnisvollen Führerin, deren Pfoten auf dem Boden kleine silberne
Sternchen hinterließen. Als sie am Feenhügel angelangten, schloß er seine
Augen, deren Glanz das neugierige Feenvolk aus ihren Verstecken gelockt
hatte, und öffnete sein Herz um Silberpfote weiter folgen zu können.
Leise drang ihre Stimme an sein Ohr " Wir sind da! In der Schlucht des
Vergessens hat der Drache Der Ewigen Dunkelheit sein Lager." Furchtsam
blickte Goldauge sich um, doch er wußte, daß das Schicksal seiner Menschen,
der Dies- und der Anderswelt und seiner geliebten Silberpfote jetzt in seinen
Pfoten lag. Sein eigenes Schicksal würde sich hier ebenfalls erfüllen. Doch
wie sollte er den Drachen Der Ewigen Dunkelheit, dessen Nähe einen Schatten
auf sein kleines Katerherz warf, besiegen? Da spürte er wie Silberpfote ihre
rosa Nase zärtlich an seine schwarze Nase drückte und der Schatten auf seinem
Herzen begann sich zu lichten. Die Sonne, deren goldenen Glanz er in den
Augen trug erwärmte sein Herz und er begann im Angesicht der nahen Gefahr vor
Wonne zu schnurren. Lauter und lauter schnurrte Goldauge und auch Silberpfote
stimmte in das Lied der Liebe mit ein. Die Töne stiegen zu Himmel und
verwandelten sich in ein Netz aus goldenen und silbernen Fäden, das sich mit
einem Mal um das Herz des Drachen Der Ewigen Dunkelheit legte und es zum
Zerspringen brachte. Soviel Licht und Liebe hatte es an diesem Ort der
Finsternis noch nie gegeben. Mit einen letzten  Aufschrei zerfiel das Untier
zu Asche.
Der Wind des Schicksals nahm die Asche mit sich und brachte sie in alle vier
Himmelsrichtungen. Im Süden zerfiel sie unter den reinigenden Feuerstrahlen
der Sonne, im Westen löste sie sich im Wasser der Weisheit auf, im Norden
wurde sie an den Steinen der Ewigkeit zu Staub zerrieben und im Osten verlor
sie sich im Wind der Unendlichkeit. Als das alles so geschehen war, löste
sich auch der giftige Atem der Drachen Der Ewigen Dunkelheit ins Nichts auf.
Verwundert schaute Goldauge sich in der wundersamen Welt um, die jetzt in
neuer Farbenpracht erstrahlte und wie aus einem tiefen Schlaf zu neuem Leben
erwachte.
"Du hast deine Waffen gut genutzt, Goldauge. Wir sind dir zu unendlichem Dank
verpflichtet und ich kann dir jeden Wunsch erfüllen, den du hast. Reichtümer,
ewiges Leben - ein Wort von dir und so sei es!" Goldauge überlegte nicht
lange. Was nützen einem Kater, der einen warmen Platz am Ofen zu schlafen hat
und ein Schälchen Rahm jeden Morgen alle Reichtümer der Welt? Warum sollte er
ewig leben, wenn alle, die er liebte ihn verlassen mußten? " Ich wünsche mir,
daß du mitkommst in meine Welt, Silberpfote. Ich möchte fortan meinen schönen
Platz am Ofen mit dir teilen, bis an das Ende unserer Tage, wenn wir für
immer in die Anderswelt zurückkehren." Zärtlich rieb Silberpfote ihre Wange
an seiner " Diesen Wunsch erfülle ich dir gerne," flüsterte sie ihm sanft in
sein Ohr und gemeinsam machten sie sich auf den Heimweg.
Die Sonne hatte schon ihre warmen Strahlen über die Dieswelt gebreitet, als
die beiden Katzen in der Ferne Goldauges Zuhause erblickten. Schon von weitem
hörten sie die fröhlichen, lauten Stimmen der Menschen, die zu neuem Leben
erwacht waren. Beim Anblick von Goldauge und seiner neuen Gefährtin stellten
sie erfreut fest, das es eine Glückskatze sein müsse, die an diesem Tag die
Sonne mit zurück in die Welt gebracht hat.
Was in der Nacht unter dem Katzenmond wirklich geschah, wird für immer das
Geheimnis aller Katzen sein, die seit ein Kater namens Goldauge die Dieswelt
und die Anderswelt gerettet hat, als einzige Wesen zwischen beiden Welten
ungestraft hin und hergleiten dürfen.

© 1998 Barbara Stiller



© 1998 Barbara Stiller